Unter Beobachtung
Mit dem Bild von gewaltbereiten Zuwanderern wird Politik gemacht, auch in Sachsen-Anhalt. Das verstellt womöglich den Blick für die tatsächlichen Ursachen von Konflikten. Welche Rolle spielen Lebensumstände und Perspektivlosigkeit?
Die Blutspuren haben sich eingeprägt. Ein junger Mann aus Mali, der bewusstlos auf dem Flur liegt. Stichverletzungen, Krankenwagen. Am nächsten Tag wird vermeldet: Asylbewerber nach Messerangriff in Untersuchungshaft.Vor gut zwei Jahren ist das passiert, im März 2017. „Das war ein Fall, von dem ich die Bilder noch im Kopf habe“, sagt Eckhardt Stein. An den Vorfall erinnert er sich aber nicht nur wegen des Bluts. Sondern auch deshalb, weil es einer der wenigen während seiner Zeit in der Zentralen Anlaufstelle für Asylbewerber (ZAST) war. Seit fünf Jahren leitet Stein die Erstaufnahmeeinrichtung am Rand von Halberstadt. „Im Großen und Ganzen funktioniert das gut“, sagt er. „Die Einrichtung gilt bisher als wenig störungsanfällig oder auffällig in Bezug auf Eskalation.“
Hin und wieder gehe etwas kaputt. Werde der Feuerwehr-Notruf ohne Grund gezogen. Handgreiflichkeiten? Damit habe der Alltag hier im Harzvorland wenig zu tun. Trotz derzeit etwa 950 Bewohnern auf engem Raum, trotz 50 bis 70 Zugängen pro Woche. Wer auf der Flucht nach Sachsen-Anhalt kommt, wird zunächst hier einquartiert. Am Fuß einer Straße, die sich aus Halberstadt hinaus schlängelt. Kopfsteinpflaster. Vorbei noch an einer Siedlung mit Einfamilienhäusern. Drei lange, graue Fünfstöcker erheben sich aus dem eingezäunten Gelände, einer ehemaligen Kaserne.
„Im Großen und Ganzen funktioniert das gut.“
– Eckhardt Stein
„Wir sind gut ausgelastet“, sagt Stein. Er sitzt in einem bescheidenen Büro, letzte Tür rechts, ganz unten im Erdgeschoss von Haus A. Hier sind die alleinstehenden Männer untergebracht. Gerade sie werden in der aufgeheizten Debatte um Migration vielfach zum Feindbild erkoren. Die AfD macht Politik mit dem Bild von gewaltbereiten zugewanderten Männern, auch in Sachsen-Anhalt. Für bundesweite Schlagzeilen sorgte im September 2018 zudem der Tod des Kötheners Markus B. Zuerst hatte es seinerzeit Streit zwischen jungen Asylsuchenden aus Afghanistan gegeben, nachts auf einem Spielplatz. Eine Gruppe Deutscher schaltete sich ein. Auch B. ist dabei. Es kommt zur Schlägerei, der 22-Jährige wird attackiert und geht zu Boden. Er stirbt an einem Herzinfarkt. Schon am Abend danach versammeln sich Rechtsradikale und andere Köthener an dem Spielplatz. Mehrmals marschieren sie in den kommenden Wochen vor Ort auf – und nutzen den Vorfall, um Zuwanderer in Verbindung mit Gewalt zu bringen.
Die Statistik
Eine verlässliche Grundlage gibt es für diese Verbindung nicht. Vorhandene Zahlen bilden das Geschehen nur unvollständig ab. Die Polizeiliche Kriminalstatistik (PKS) etwa sammelt Anzeigen. Für Sachsen-Anhalt sind hier im letzten Jahr 119 Tötungsdelikte registriert. In 18 Fällen (vier vollendete und 14 versuchte Taten) wurden Geflüchtete verdächtigt (15,1 Prozent) – in 101 Fällen nicht. 1 464 Fällen von Körperverletzung mit asylsuchenden Verdächtigen (8,8 Prozent) stehen 15 199 Fällen mit anderen Verdächtigen gegenüber. In der Statistik sind Zuwanderer damit überrepräsentiert. Vor Ort stellten sie 2018 wohl etwa 1,5 Prozent der Bevölkerung – präzise Daten liegen nicht vor. Ende 2016 lebten im Bundesland laut Innenministerium 30 486 Geflüchtete. Bis Ende 2018 wurden in der ZAST und deren Außenstellen 6 294 Asylbewerber aufgenommen, 2 616 Menschen reisten im selben Zeitraum aus oder wurden abgeschoben.
Tötungsdelikte in Sachsen-Anhalt nach PKS (2018)
Körperverletzungen in Sachsen-Anhalt nach PKS (2018)
Die Aussagekraft der Anzeigenstatistik hat gleichwohl Grenzen. „Wenn man etwas über Kriminalität erfahren will, ist das eigentlich keine gute Grundlage“, sagt Tobias Singelnstein, der Leiter des Kriminologie-Lehrstuhls an der Ruhr Universität Bochum. Erfasst würden bloß Verdachtsfälle – ob die vermeintlichen Täter tatsächlich verurteilt werden, bleibe offen. Ein großes Dunkelfeld an Vorfällen werde hingegen überhaupt nicht registriert. Die Statistik dokumentiere deshalb eher die Arbeit der Polizei, denn das tatsächliche Verbrechen. Gerade Geflüchtete gelangen dabei ins Blickfeld der Behörde. Laut Singelnstein werden ausländisch wahrgenommene Menschen in Deutschland von Polizei und Bevölkerung stärker kontrolliert und öfter angezeigt. „Das ist empirisch untersucht“, sagt der Kriminologe. „Es gibt eine größere Kontrollintensität. Nicht-deutsch wahrgenommene Personen werden stärker beobachtet.“ Hier spiegelten sich rassistische Ressentiments, die unter anderem durch den öffentlichen Diskurs über Asylsuchende entstünden.
„Es gibt eine größere Kontrollintensität. Nicht-deutsch wahrgenommene Personen werden stärker beobachtet.”
– Tobias Singelnstein
Auch die unterschiedliche Altersstruktur verzerre Vergleiche. Unter den Geflüchteten seien überproportional viele junge Männer – statistisch immer die konfliktträchtigste Gruppe. „Es in jeder Gesellschaft so, dass junge Männer die meisten Straftaten begehen“, erklärt Singelnstein. Eine höhere Gewaltbereitschaft der Zuwanderer lasse sich aus den Zahlen jedenfalls nicht ableiten. „Man muss sich immer bewusst machen, dass die allermeisten der Geflüchteten keine Straftaten begehen“, sagt der Kriminologe. „Die große Masse verhält sich gesetzestreu.“
Die Straße
Nur nach Geflüchteten zu fragen, verstellt womöglich den Blick für die tatsächlichen Ursachen von Gewalt. Religiös aufgeladene Konflikte begegnen den Fachkräften vor Ort jedenfalls eher selten. „Real haben wir hier viel mehr mit Gewaltdelinquenz zu tun“, sagt Hans Goldenbaum. Als Projektleiter der Radikalisierungs-Fachstelle „Salam Sachsen-Anhalt“ berät und qualifiziert er Sozialarbeiter, Lehrer oder Polizisten. Von ihnen erfährt er, welche Probleme auf den Straßen und in den Schulen akut sind. Und diese seien oft altbekannt. Auch wenn es um Geflüchtete geht, schaut Goldenbaum auf Viertel wie Halle-Neustadt oder Halle-Silberhöhe.
Dort, wo der günstige Wohnraum ist, würden auch die Zuwanderer angesiedelt. „Sie gehen auf Sekundarschulen, die vorher schon Brennpunktschulen waren“, sagt Goldenbaum. Oft ohne Deutschkenntnisse. Sprachkurse gebe es an den Schulen meist nicht mehr. „Die de-facto-Einstellung seit 2017 hat massive Konsequenzen gehabt“, sagt der Projektleiter. Schulfrust, Schwänzen, Perspektivlosigkeit. „Wenn sie in der Schule versagen, suchen die sich anderswo ihre Helden“, so Goldenbaum. Im Viertel sei das oft deutsches Problemklientel, das auf ähnliche Weise durchs Sieb gefallen ist.
„Real haben wir hier viel mehr mit Gewaltdelinquenz zu tun.“
– Hans Goldenbaum
„Es bilden sich Gruppen von Jugendlichen, die im öffentlichen Raum rumhängen“, schildert der Projektleiter. „Das sind die, die wahrnehmbar sind.“ Dazu Alkohol. Gewaltverherrlichende Musik. Mädchen, denen es zu imponieren gilt. Eine neue Chance, sich zu profilieren. „Der Jugendliche sucht Omnipotenz“, sagt Goldenbaum. „Ich bin wer, ich bin wichtig, ich bin groß.“ Wer in der Schule abgehängt sei und kein Geld für den Gitarre-Unterricht habe, definiere sich eben „über Physis und Gewalt“, wie der Projektleiter sagt. „Sie machen sich attraktiv darüber, dass sie besonders gewalttätig und delinquent sind.“
Rassismus und Gewalterfahrungen in autoritären Staaten könnten zur Gemengelage beitragen, auch eine fehlende gemeinsame Sprache. Teils schaukelten sich geringfügige Anlässe hoch. Ein vermeintlich schiefer Blick. Ein Rempler im Bus. Ein Flirt mit dem falschen Mädchen. „Viele niedrigschwellige Schubsereien und Cliquensachen, die Leuten im öffentlichen Raum auffallen“, sagt Goldenbaum. „Wenn da jeder noch seine Kumpels dabei hat, entsteht eine Schlägerei.“ Auch in Köthen hätten die Beteiligten sich gekannt, sei um die Schwangerschaft einer jungen Frau gestritten worden. Diese Art von Konflikten sei nicht neu, sondern ein grundsätzliches Problem unter jungen Männern – gerade jenen in prekären sozialen Umständen.
Die Unterkunft
Für Eckhardt Stein klingt all das bekannt. „Zwischenmenschliche Konflikte. Das ist das Hauptkonfliktfeld“, sagt der ZAST-Leiter. Religiös oder ethnisch gefärbte Fehden seien selten. Eher: Perspektivlosigkeit, Streitereien und Alkohol, die Enge. Auf dem einstigen Kasernen-Gelände stehen bis zu sechs Betten in einem Raum. „Je enger Menschen zusammenleben, desto unruhiger wird die Situation“, sagt Stein. Damit sich Konflikte nicht hochschaukelten, setzte man auf Betreuung. „Wenn wir sehen, dass sich etwas aufbaut, gehen Sozialarbeiter da rein“, erklärt der Leiter.
Um jeden Wohnflur kümmere sich einer oder eine von ihnen. Die Menschen könnten sich außerdem selbst einbringen und das Grün pflegen, in der Wäscherei oder dem Bewohnercafé helfen. Das werde gut angenommen. Dazu gebe es ein Programm für Kinder, eine Psychologin. Auch wegen all dem bleibe es vor Ort recht friedlich. „Manch einer spricht von Glück“, sagt Stein. „Ich sage, dass das durch die ordentliche Arbeit der Kollegen erreicht wird.“
„Real haben wir hier viel mehr mit Gewaltdelinquenz zu tun.“
– Hans Goldenbaum
Diese Arbeit wird in Zukunft nicht leichter. Seitdem Sachsen-Anhalt sein Aufnahmegesetz im Februar verschärft hat, bleiben die Menschen noch länger in der ZAST, als ohnehin schon. Gedacht war sie ursprünglich als rund dreiwöchige Zwischenstation. Die ist das Gelände bei Halberstadt längst nicht mehr. Auch wenn der Begriff „Ankerzentrum“ nicht fällt – Menschen, denen in Deutschland keine Perspektive eingeräumt wird, sollen möglichst direkt aus der Erstaufnahmeeinrichtung abgeschoben werden. Erst wer einen Asylstatus bekommt, kann umziehen. Nach sechs Monaten auch alleinstehende Frauen. Es bleiben Männer mit geringen Chancen auf Asyl. Und zwar von nun an bis zu 18 Monate lang. „Das verändert das Bild der Unterkunft hier“, sagt Stein. „Es ist eine Herausforderung für die Organisation des Zusammenlebens.“ Die Sorge, dass Konflikten zunehmen könnten, sei durchaus da.
Die Debatte
Auch wenn es so kommen sollte – solche Vorfälle aufzurechnen, hält Antje Arndt von der Mobilen Beratung für Opfer rechter Gewalt für grundverkehrt. „Es muss aufgehört werden, von Gewalt von Geflüchteten zu sprechen“, sagt sie. „Was für Gewalt ist denn das, die so spezifisch ist, dass man sie als Gewalt von Geflüchteten bezeichnen würde?“ Vergleichbare Auseinandersetzungen gebe es längst nicht nur unter Migrantinnen und Migranten. Und wenn etwa ein ALG-II-Empfänger auf der Anklagebank sitze, werde anschließend – zu Recht – nicht diskutiert, wie gewalttätig Arbeitslose sind.
Bei Zuwanderern schon. „Geflüchteten wird per se eine Zuschreibung gemacht“, sagt Arndt. Dabei seien das sehr unterschiedliche Menschen, längst keine homogene Gruppe. Die Diskussion verrät auch etwas darüber, wie auf Zuwanderer geschaut wird. „Es ist eine rassistisch geprägte Debatte“, meint die Sozialarbeiterin. „Und das ist höchst gefährlich.“ Wozu der Diskurs führen kann, das weiß sie durch ihre tagtäglich Arbeit nur zu gut.
„Es ist eine rassistisch geprägte Debatte.”
– Antje Arndt
Arndt sitzt an einem große Tisch im Hallenser Büro der Opferberatung. Die Räume nahe des Zoos sind einer von drei Standorten der Fachstelle in Sachsen-Anhalt. Hier empfangen die Sozialarbeiterinnen und Sozialarbeiter Menschen, die angegriffen wurden, weil sie nicht in ein rechtes Weltbild passen. Linke und Wohnungslose, engagierte Ortsbürgermeister und Homosexuelle. Menschen mit dunkler Haut. Arndt und Co. schauen nicht auf einzelne gesellschaftliche Gruppen. Sondern auf die Motivation hinter einer Tat. Und die heißt in Sachsen-Anhalt meist: Rassismus.
154 rechte Übergriffe hat die Opferberatung hier im vergangenen Jahr registriert. Bei 108 davon waren Hautfarbe und vermeintliche oder tatsächliche Herkunft der Opfer Anlass für die Attacke. Dazu komme ein großes Dunkelfeld. „Die Gefahr ist allgegenwärtig“, sagt Arndt über rassistische Gewalt. Und hier gebe es das zusammenhängende Motiv tatsächlich. „Es passiert aufgrund eines äußeren Merkmals, das zur Identität des Menschen gehört und das nicht abgelegt werden kann“, erklärt die Sozialarbeiterin. Vor Ort treffe das meist Geflüchtete – qua Bevölkerungsstruktur. Nach Pass und Aufenthaltsstatus frage schließlich kein Täter. Und um den Einzelnen oder die Einzelne gehe es auch gar nicht. „Rassistische Gewalt hat immer eine Signalwirkung auf die ganze Gruppe“, sagt Arndt. „Das ist so gewollt, es sind Botschaftstaten: Du bist hier nicht erwünscht. Wer zur Gruppe gehört, weiß – das hätte auch mich treffen können.“
Denn rassistische Übergriffe kämen meist willkürlich und unvermittelt – auch das verbinde diese Gewaltform. „Es passiert plötzlich, es passiert in der Öffentlichkeit“, schildert Arndt. „Täter und Opfer kennen sich nicht. Es gibt ganz oft keine Vorgeschichte.“ So war es bei der Syrerin, die in Weißenfels wegen ihres Kopftuchs angepöbelt und mit Schnapsflaschen beworfen wurde. Bei der hochschwangeren Frau aus Somalia, die vor ihrem Wohnhaus von Nachbarn beschimpft und in den Bauch geschlagen wurde. Bei den jungen Männern aus Mali und Burkina Faso, denen in Naumburg aus einem Auto heraus Beschimpfungen an den Kopf geworfen, dann ein Hund auf den Hals gehetzt wurde. Nur Ausschnitte aus einer langen Liste von Angriffen.
Meist, so Arndt, beginnen diese mit Provokationen. „Rassistische Beleidigung, vor die Füße spucken – das ist für viele Alltag“, berichtet die Sozialarbeiterin. So etwas würde von den Betroffenen oft gar nicht erst an die Opferberatung herantragen. Und es finde auch kaum den Weg in die Öffentlichkeit. Anders, als der rechte Frame von gewaltbereiten Zuwanderern. „Dieser Diskurs ist in den letzten Jahren der viel, viel bestimmendere“, sagt Arndt. „Und er fördert den Rassismus.“
