Schule

Arzt, Lehrer, IT-Experte

Viele der zugewanderten Kinder, die in Annaburg unterrichtet werden, haben schon ganz konkrete Berufswünsche. Um ihre Träume verwirklichen zu können, wollen sie möglichst schnell Deutsch lernen. Dabei hat sich die Sekundarschule im Landkreis Wittenberg für ein besonderes Modell entschieden.

von Saskia Hotek

Foto Schüler
Andreas Stedtler

Raum 211. Zweite Stunde in der Sekundarschule Annaburg (Landkreis Wittenberg). Ahmad erklärt Alexandru die Aufgabenstellung. „Wir sollen aus dem Tagesablauf mit den verschiedenen Uhrzeiten Sätze im Perfekt bilden, zum Beispiel: Um 14 Uhr hat er Hausaufgaben gemacht.“ Die Aufgabenstellung klingt zunächst einmal nicht ungewöhnlich, und es ist selbstverständlich, dass sich Klassenkameraden gegenseitig unterstützen, wenn einer von ihnen bei der Lösung Probleme hat.

Doch auf den zweiten Blick fällt auf, dass es sich ganz und gar nicht um eine normale Deutschstunde handelt. Denn die beiden Jungen unterhalten sich auf Spanisch. Warum aber wird im Deutschunterricht Spanisch gesprochen? Ahmad und Alexandru leben erst seit einigen Monaten in Deutschland. Ahmad kommt aus Syrien, Alexandru aus Rumänien. Und weil ihr Deutsch noch nicht so gut ist, haben die beiden Spanisch als gemeinsame Sprache gefunden, um sich zu verständigen und gegenseitig zu helfen.

Mehr als ein Niveau

Dieses Miteinander zeichnet die Sprachklasse in Annaburg aus. Die 19 Kinder und Jugendlichen im Alter von elf bis 15 Jahren unterstützen sich im Unterricht. Sie verbindet ein Ziel: Sie wollen die deutsche Sprache so schnell wie möglich erlernen. Passend dazu der Name des Unterrichtsfaches: Deutsch als Zielsprache (DaZ). Die Schüler stammen aus Bulgarien, Indien, Rumänien, Tschetschenien, Iran und Syrien – dem Land, aus dem im Schuljahr 2017/18 die meisten Schüler nach Sachsen-Anhalt gekommen sind (siehe folgende Grafik).

Aus welchen Ländern kamen die meisten zugewanderten Schüler nach Sachsen-Anhalt im Schuljahr 2017/18?

10.827

Schüler anderer Nationalitäten insgesamt

Syrien: 4353
%
Afghanistan: 1041
%
Rumänien: 624
%
Russland: 513
%
Türkei: 335
%
Vietnam: 309
%
Polen: 309
%
Indien: 240
%
Irak: 230
%
Kosovo: 221
%
Bulgarien: 205
%

Die Sprachschüler in Annaburg haben zwölf Stunden DaZ pro Woche. In jeweils einer Einheit werden sie in Mathe, Sport und Kunst unterrichtet, in den übrigen neun Stunden lernen sie die Grundlagen der deutschen Sprache.

Nicole Haufe gestaltet diesen Unterricht seit dem Schuljahr 2017/18. Die Stunden in der DaZ-Klasse seien dabei nicht immer einfach. „In der Sprachklasse sitzen Schüler mit ganz unterschiedlichen Wissensniveaus, die ich versuche, unter einen Hut zu bekommen“, erklärt die Lehrerin. Erschwerend komme hinzu, dass sich die Zusammensetzung der Klasse oft ändere, weil neue Schüler dazukommen oder gehen.

„In der Sprachklasse sitzen Schüler mit ganz unterschiedlichen Wissensniveaus, die ich versuche, unter einen Hut zu bekommen.“

Nicole Haufe

Engagierte Mitarbeiterin hilft

Einige Schüler haben bereits in den Erstaufnahmeeinrichtungen grundlegende Kenntnisse erlernt, andere kommen dagegen in Annaburg zum ersten Mal in Kontakt mit der deutschen Sprache. Allein könnte Nicole Haufe diese Aufgabe nicht stemmen.

Daher ist sie froh, dass sie Uta Kempe als Unterstützung hat. Die Mitarbeiterin ist seit ihrem Bundesfreiwilligendienst an der Sekundarschule tätig. Sie betreut die Schüler, die Schwierigkeiten mit der Sprache haben oder neu in der Klasse sind und hilft ihnen, den Anschluss an den Unterricht zu finden.

Den Sprachunterricht eröffnet Nicole Haufe mit einer Fragerunde, in der sich die Mädchen und Jungen auf unterschiedliche Weise vorstellen. Die Lehrerin fragt beispielsweise, woher die Schüler stammen und wo sie wohnen.

Große Träume

Untereinander sprechen die Kinder darüber, was sie später werden wollen. Sam, der im Iran geboren wurde, möchte nach dem Schulabschluss als Computerexperte arbeiten. Der Zwölfjährige ist zurzeit in der fünften Klasse und sagt über sein Leben in Deutschland: „Mir gefällt die Schule und dass wir frei sind.“

„Als wir hergekommen sind, war alles voller Schnee. Das haben wir noch nie gesehen.“

Kriya, 15 Jahre

Auch Kriya macht die Schule Spaß. Die junge Inderin hat das Ziel, später als Lehrerin zu arbeiten. Sie erinnert sich gern an ihre Ankunft in Deutschland: „Als wir hergekommen sind, war alles voller Schnee. Das haben wir noch nie gesehen.“ Die 15-Jährige lernt mit ihrem Bruder Biren in der Sprachklasse. Der 14-Jährige, der in seiner Freizeit Fußball und Computer spielt, träumt davon, Arzt zu werden.

Vorurteile beseitigen

Manchmal bezieht sich die Einleitung in den Unterricht auch auf den aktuellen Schulalltag. Ein Beispiel: Als es einen Streit zwischen den Schülern vor dem Unterricht gibt, fordert die Lehrerin die Beteiligten zunächst auf, den Konflikt zu erklären. Sam sagt: „Die Araber haben unser Land zerstört und deshalb können wir die nicht leiden.“

„Die Araber haben unser Land zerstört und deshalb können wir die nicht leiden.“

Sam, 12 Jahre

Auf Grund solcher Vorurteile, mit denen die Kinder und Jugendlichen aufwachsen, kommt es hin und wieder zu Auseinandersetzungen. Nicole Haufe kann den Streit lösen, indem sie sagt, dass die arabischen Schüler in dieser Klasse nicht dafür verantwortlich sein können. Sie seien noch Kinder. Anschließend bittet die Lehrerin ihre Schüler, sich gegenseitig Komplimente zu machen. Damit beruhigt sich die Situation in der Klasse und der Unterricht kann wie gewohnt stattfinden.

Bis zu 20 Stunden Sprachunterricht

Eine DaZ-Klasse, wie sie in Annaburg besteht, ist nicht die Regel. Nach Angaben des Landesschulamtes Sachsen-Anhalt ist es den Bildungseinrichtungen überlassen, ob sie „Sprachfördergruppen einrichten oder integrativen Unterricht organisieren“. Bei Letzterem lernen die Schüler von Beginn an in den regulären Klassen. Welche Unterrichtsform gewählt wird, sei auch abhängig von den personellen Voraussetzungen, erklärte das Landesschulamt.

Neuzugewanderte Schüler hätten Anspruch auf intensive Sprachförderung. Diese könne je nach Bedarf bis zu 20 Wochenstunden umfassen und sei regulär auf anderthalb Jahre begrenzt. In dieser Zeit könne die Benotung der Leistungen ausgesetzt werden, heißt es im entsprechenden Runderlass des Bildungsministeriums in Magdeburg. Der Lernfortschritt werde auf dem Zeugnis vermerkt.

Wie groß ist der Anteil der Schüler mit Sprachförderbedarf in Sachsen-Anhalt im Schuljahr 2018/19?

177.011  Anzahl der Schüler insgesamt

5.323  Anzahl der Schüler mit Sprachförderbedarf

Schulform Anzahl der Schüler gesamt Anzahl der Schüler mit Sprachförderbedarf Anteil
Grundschule 68.175 3.548 5,20%
Sekundarschule 34.814 892 2,56%
Gemeinschaftsschule 13.091 738 5,64%
Gymnasium inkl. Schulen des zweiten Bildungsweges 45.337 48 0,11%
Gesamtschulen einschl. Sportschule Halle 5.324 62 1,16%
Förderschulen 10.270 35 0,34%

Quelle: Ministerium für Bildung des Landes Sachsen-Anhalt

Auf dem Stundenplan der Mädchen und Jungen in Annaburg steht nicht nur DaZ, sondern auch der „normale“ Unterricht in den Regelklassen. Hier lernen sie zusammen mit ihren deutschen Mitschülern. Die Sechstklässler beispielsweise lernen in Sport die Techniken des Volleyballs und in Mathematik die Kongruenzsätze von Dreiecken.Während die Sprachschüler in der regulären Klasse zurückhaltend auftreten, blühen sie in DaZ auf. Als die Schüler aus einzelnen Wortgruppen Sätze mit der Zeitform Perfekt bilden sollen, kann sich Nicole Haufe kaum vor Wortmeldungen retten.
Biren sagt: „Ich bin gestern Fußball gespielt.“ Sofort korrigiert ihn Kriya: „Ich habe gestern Fußball gespielt.“ In der DaZ-Klasse haben die Mädchen und Jungen keine Scheu, sich zu melden. Sie fühlen sich wohl, lachen viel miteinander. Ahmad erzählt: „Ich liebe es, mit den anderen Kindern zu sprechen und zu lernen.“ Alexandru strahlt, wenn er an die Klasse denkt: „Ich habe viele Freunde hier.“

Ich liebe es, mit den anderen Kindern zu sprechen und zu lernen.Ahmad, 11 Jahre

Schüler mit viel Ehrgeiz

Egal, wen man in der Sprachklasse fragt, was ihr oder ihm in Deutschland gefällt, alle antworten: „Wir mögen die Schule.“ Die Schüler sehen es als Privileg an, die Schule besuchen zu dürfen und kommen jeden Tag motiviert in den Unterricht. Eine Kollegin von Nicole Haufe bestätigt diesen Eindruck: „Wir müssen sie manchmal in ihrem Ehrgeiz bremsen.“

Was die Kinder in der Sprachklasse lernen und welche Erfahrungen die Autorin bei ihrer Recherche gemacht hat, hören Sie hier: